Ich habe vermutlich alles richtig gemacht, indem ich gestern früh schlafen gegangen bin, statt jeder neuen Hochrechnung entgegenzufiebern. Es war spannend aber meine Nacht davor eher kurz – wenn ich heute morgen auf das Endergebnis schaue, sieht es trotzdem kaum anders aus, als die ersten Hochrechnungen. Dazu ein paar Feststellungen.
- Zur FDP
- FDP hat natürlich einen Wahlerfolg hingelegt aber ich hätte mit über 12% gerechnet und auf über 13% gehofft – und denke, dass das auch drin gewesen wäre.
- Im Landkreis Harburg erfüllt die FDP meine Erwartungen und holt 12,7%. Landesweit bestes Ergebnis. Schon wieder. Das ist mittlerweile bei jeder Wahl so. Und wie bei jeder Wahl kriegen wir hier vor Ort nichts dafür, kein Mandat, gar nichts. Wegen der Frauenquote, die die FDP offiziell nie eingeführt hat, die aber offensichtlich doch irgendwie existiert. Ja, das fühlt sich bitter an. Auch wenn die in Niedersachsen gewählten Abgeordneten der FDP alles gute Leute sind, auf deren Arbeit ich mich freuen kann. Frustrierend ist es dennoch, über viele Jahre alles richtig zu machen und dann doch immer wieder ausgebootet zu werden, wenn es um was geht.
- Mit über 90 Mandaten ist die FDP wieder eine große Truppe im Bundestag geworden und sie ist den Grünen näher gekommen, als viele sich das vorher vorgestellt haben. Zieht man den Kanzlerkandidatenbonus bei den Grünen ab, kann man hier von Augenhöhe sprechen.
- In einem Tweet alberte ich gestern noch so rum, dass ja FDP und Grüne schon mal die Koalition inhaltlich aushandeln könnten und dann kann man Olaf und Armin mal fragen, ob einer von beiden Lust und Zeit hätte, das zu unterschreiben und Bundeskanzler zu werden. Das war als Witz gemeint aber jetzt spricht einiges dafür, dass es in etwa so laufen könnte, vielleicht auch laufen muss. Ich bin beeindruckt von mir selber.
- Meine persönliche Erwartung und dringende Empfehlung an die FDP ist, dass es ihr gelingt, eine gute Regierungskoalition auszuhandeln, vor allem auch inhaltlich, und Teil der nächsten Bundesregierung wird. Genau so dringend würde ich ihr trotzdem empfehlen, in jedem Fall absehbar fehlschlagende Verhandlungen nicht erst Wochen später zu verlassen, sondern umgehend.
- Zum Wahlkreisergebnis
- CDU-Kandidat Grosse-Brömer, seines Zeichens hohes Tier der ehemaligen CDU-Fraktion, hat sein Direktmandat verloren. Das muss man als CDU-Kandidat im Landkreis Harburg auch erstmal hinkriegen. Gegenüber der letzten Wahl hat er 11,5% Prozentpunkte verloren. Dass man von ihm irgendwie immer nur während der Wahlkampfzeiten irgendwas wahrnimmt, scheint nicht nur mir, sondern auch vielen seiner Wähler aufgefallen zu sein.
- Den Wahlkreis gewinnt Svenja Stadler. Wenn auch hauchdünn mit 31 vor 29,1%.
- FDP holt 9% der Erststimmen, was respektabel ist – aber auch noch weit weg davon, in die Nähe eines Direktmandates zu kommen. Die Grünen holen hier 15% raus. Aus FDP-Sicht muss der Wählerschaft noch viel mehr und ernsthafter vermittelt werden, dass auch unsere Direktkandidaturen übrigens ernstgemeint sind. Das fast alle Grünen-Wähler aufgehört haben, taktisch zu wählen und auch die Direktkandidaten wählen, zeigt, dass man das vermitteln kann und sich das auch lohnt. Die Grünen haben auch bei dieser Wahl wieder Direktmandate erringen können. Das kann die FDP auch – wenn sie aufhört, selbst zu glauben, dass das ja doch nichts wird.
- AFD und SED schneiden unterdurchschnittlich ab. Das finde ich gut.
- SPD und CDU schneiden so ab, wie bundesweit. Wir sind dann doch eher langweilig.
- Wahlergebnis insgesamt
- Besser als gedacht. Die Ränder verlieren, trotz Corona-Pandemie und viel Geschrei. Und das kann nicht bloß an den paar Stimmen liegen, die die „Basis“ als Impfgegnerpartei ihnen möglicherweise abgeluchst hat.
- Die SPD ist wieder da und das ist demokratietheoretisch eine gute Nachricht, über die ich mich freue – auch wenn mir das Verständnis dafür fehlt, warum Menschen SPD gewählt haben.
- Die CDU hat deutlich verloren, was ich für sehr gerecht halte.
- Es war lustig, SPD und CDU dabei zuzusehen, wie sie jeweils für sich erklärt haben, ganz offensichtlich den Kanzlerjob errungen zu haben, während jeder normale Wähler sich so dachte nö, habt ihr einfach beide nicht. Mit dieser Wahl wurde hoffentlich den Deutschen wieder ins Gedächtnis gerufen, dass Bundestagswahlen die Wahlen des Bundestags sind, nicht die des Bundeskanzlers. Das Wahlergebnis zeigt, dass die Wähler begriffen haben, was die Medien die letzten Monate konsequent nicht verstehen wollten.
- Der wahre Regierungsauftrag liegt bei Grünen und FDP, das ist kaum zu übersehen. Dazu muss von diesen beiden keiner zwingend den Kanzler stellen. Eine neue Groko halte ich schon deswegen für unwahrscheinlich, weil SPD und CDU so nah beieinander sind, dass man vermutlich den Kanzler per Losentscheid ziehen müsste, damit das was wird. Wird nicht passieren.
Fazit: Auf einen interessanten Wahlabend werden noch interessantere Machtbildungswochen folgen. Ergebnis ungewiss. Ich erwarte aber, dass man sich zu irgendwas zusammenraufen können wird. Die FDP ist so bereit wie nie dazu, die Grünen wollen das wirklich und SPD und CDU haben jeweils Lust, einen Kanzler zu stellen und sind inhaltlich sowieso einigermaßen flexibel. Das ist eine konstruktive Ausgangslage, mit der man arbeiten kann. Wird trotzdem etwas dauern. Neue Regierung vermutlich nicht vor Weihnachten – aber auch hier schließe ich Überraschungen nicht aus.
Und jetzt gehe ich mal Plakate abhängen.